Digitale Überforderung oder: seid ihr Junkies eigentlich bekloppt?

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Innerhalb einer Woche habe ich verschiedene Menschen in ähnlichen Situationen erlebt: mitten in Gesprächen brummen, bimmeln und schallern Handys, Aufmerksamkeit ist zu einem erstrebenswerten Gut verkommen und die digitale Redundanz bestimmt den Alltag. Verdrängung und Flucht von/vor Realität, Vernunft und Menschlichkeit.

Der digitale Overflow, er überfordert - Jung und Alt.

Das hier, das sei eingangs erwähnt, ist übrigens mal wieder so ein Romantext. Es freut mich immer, wenn jemand meine Texte liest, aber es tut mir auch ein wenig Leid, dass ich mich einfach nicht kurzfassen kann. OK, das war gelogen. Ich liebe die Ausschweifung. Arme Sau.

Digital Natives und die Generation danach

Zugegeben: wenn gerade ich über ein solches Thema schreibe, hat das in etwa den gleichen Charakter wie ein frischer Nichtraucher, der sich fragt, ob Raucher nicht alle Tassen im Schrank haben. Nicht nur habe ich selbst erst vor einigen Wochen den digitalen Abfall rausgetragen und mich bis dahin täglich von meiner Frau ermahnen lassen, ich solle doch „endlich mal das Scheißding aus der Hand legen“. Ich bin auch das, was man einen Digital Native nennt. Ich war schon da, bevor es Handys gab, bevor es das Internet gab. Mit der Entstehung beider Techniken bin ich aufgewachsen. Im verpickelten Revoluzzer-Endstadium – ich war 16, also reden wir hier von 1996 – besuchte ich zum ersten Mal Internetcafés, für die ich mit meinem Moped tatsächlich 20km weit in die nächstgrößere Stadt fuhr, und gefühlt schon bald darauf hielt dieser neumodische Kram, dem sich bis dahin nur gelangweilte Jugendliche ohne Zukunft und Bildung hingaben, sogar Einzug in die Berufswelt. War wohl doch ganz praktisch, dieser Mobilfunk und dieses... dieses... Internetz. Ich komme an dieser Stelle nicht umhin zu erwähnen, dass das Dr. Angela Merkel entliehene Zitat um das Internet als „Neuland“ erst gut 20 Jahre später entstehen sollte. Zu einer Zeit, als bereits jeder Achtjährige die Augen aufriss und sich fragte, wo die Dame in eben diesen Jahren war.

„Wir sind im Internet!“ war seinerzeit, und damit sind wir zurück im Jahr 1996, noch eine mit einem gewissen, mitschwingenden Stolz posaunte Aussage von Unternehmen, um ihre Innovationskraft zu unterstreichen. Mein 16-jähriges Ich war davon natürlich beeindruckt. Wow – jede Fernsehsendung hatte plötzlich eine Internetseite, ganze Unternehmen stellten ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Internet am Arbeitsplatz zur Verfügung. „Was die wohl den ganzen Tag in den Chatrooms so treiben?“, fragte ich mich naiverweise, denn anfangs gab es ja in meinen Augen nicht sehr viel mehr als Chatrooms, Mailboxsysteme und rudimentär zusammengeschusterte Unternehmenspräsenzen in Form hässlicher Framed Pages.

Es dauerte nicht wirklich lange, bis das Internet als Ursache der Produktivitätsminderung in Unternehmen verantwortlich gemacht wurde. Mitarbeiter erhielten plötzlich die Möglichkeit, innerhalb ihrer Arbeitszeit selbige nicht nur mit Ablenkung zu füllen, sondern regelrecht zu verdrängen. Schon bald ging es nur noch darum, wer noch nicht diese oder jene Seite gesehen hatte, diesen oder jenen Witz gelesen oder dieses oder jenes Bild ausgedruckt hatte. Kam man zudem noch in den Genuss, eine E-Mail-Adresse sein Eigen zu nennen, dauerte es nicht lange, bis man E-Mails von Freunden und Kollegen erhielt, die eine der seinerzeit allseits beliebten Power Point Präsentation enthielten. Bis heute bin ich davon überzeugt, dass Microsofts Erfolg in den 90er Jahren auf Power Point zurückzuführen ist. Wer das nicht hatte, durfte nicht mitlachen.

Masse statt Klasse

Beim Versand dieser Foliensammlungen schien es beinahe so, als gäbe es unter den Urhebern und Weiterleitern einen Wettstreit darum, wer die meisten Personen in seinem Adressbuch hatte. Immerhin konnte man teilweise seitenlang E-Mail-Adressen im Adressatenfeld durchscrollen. Dass man damit die E-Mail-Adressen aller Personen, die man kannte, veröffentlichte, störte damals niemanden – heute ein grober Verstoß gegen das Datenschutzgesetz.

Schon zu jener Zeit erhielt ich vier oder fünf dieser Präsentationen pro Tag, obwohl ich nicht müde wurde, den Versendern a) freundlich mitzuteilen, meine E-Mail-Adresse bitte für derlei Zustellungen nicht heranzuziehen und b) zu verdeutlichen, das Ganze sei kein persönlicher Angriff oder Mangel an Humor meinerseits. Interessant: vereinzelt gibt es diese Leute heute noch. Einmal im Jahr erhalte ich eine dieser Präsentationen. Manche davon erkenne ich aus der Erinnerung sogar aus den Jahren 1996 bis 2000 wieder...
Dieses Gefühl, wenn du bemerkst, wie alt du mittlerweile geworden bist und wie verdammt lange sich blöder Quatsch im Leben halten kann.

Eine gemeine Begleiterscheinung dieser fragwürdigen Beschäftigung war, dass es scheinbar niemanden interessierte, ob die innerhalb der zu versendenden Datei verwendeten Bilder – manche völlig Verrückte banden sogar Videos ein – wenigstens runtergerechnet waren, so dass die Datei im Anhang nicht schon wieder zehn Megabyte oder größer war. Wir erinnern uns: mit einem hoch modernen 56k Modem erreichte man auf dem Dorf, wo an ISDN trotz der Versprechen der Telekom und angesichts der horrenden Kosten noch lange nicht zu denken war, über die analoge Telefonleitung an wirklich guten Tagen eine maximale Übertragungsgeschwindigkeit von ca. 5 Kilobyte pro Sekunde. Für ein Megabyte (= 1.024 Kilobyte) verbrachte man also um die dreieinhalb Minuten mit Warten. Die zehn Megabyte waren dann nach etwas mehr als 30 Minuten endlich durch die Leitung, wenn, ja, wenn niemand im Haushalt plötzlich auf die Idee kam, telefonieren zu müssen. AOL bot damals den Internetzugang pro Minute für 10 Pfennig an. Wenn wir also völlig wahnsinnig waren, haben wir mehrmals am Tag ca. 3 DM ausgegeben, damit wir uns dämliche Präsentationen anschauen konnten und hunderte fremder E-Mail-Adressen erhielten. Was für ein selten dämlicher Schwachsinn! Ich meine... stundenlang online Diablo I zu zocken war eine völlig logische Handlung und absolut nicht zu kritisieren, aber lustige Präsentationen runterladen? Da schlägt's 13, Freunde der Sonne!

Die monatlich zu kalkulierenden Ausgaben betrugen unterm Strich, angenommen, es blieb bei nur zwei Präsentationen pro Tag, knapp 180 DM. Für die Jüngeren: 180 DM sind nach heutiger Rechnung übrigens gut 90,50 EUR. Pro Monat. Nur für das Abrufen von fünf vermeintlich lustigen E-Mails am Tag - ohne Surfen, Mails senden, Chatten, Bilder angucken und was es eben sonst noch gab. Die Datenmenge ist dabei heute mit einem weniger als 15 Seunden dauernden Video in halbwegs gescheiter Qualität gleichzusetzen, das in einer WhatsApp-Gruppe geteilt wird.
Aufgeregt haben wir uns zu jener Zeit viel lieber über den Sprit, der langsam immer teurer wurde. Normalbenzin gab's für für 1,19 DM, was heute 0,60 EUR je Liter entsprächen.

Wir haben schlicht das Maß verloren

Damals™, und so nähern wir uns langsam dem eigentlichen Thema, ließ man ein gewisses Maß walten. Man überlegte sich zweimal, ob die vorab geladene Header Section der E-Mail (Absender und Betreff) lohnenswerte Inhalte verhieß oder lieber gleich wieder gelöscht werden sollte, bevor er weitere Kosten verursachte.
Dieses Maß ist angesichts der heutigen Umstände bzw. der heutigen Standards völlig verlorengegangen. Es ist nicht nur normal, dass wir einminütige 4K Videos am Handy aufnehmen und die knapp 600 Megabyte nur leicht komprimiert zu YouTube hochladen oder über WhatsApp versenden. Normal ist auch, dass es dem Empfänger völlig egal ist, derlei Dinge zu erhalten, solange er sich im heimischen Netzwerk befindet, sich an seiner Flatrate erfreut und alles anguckt, was das Internet zu bieten hat. Und wir reden hier von Inhalten, die zu 90% dafür produziert werden, vermeintlich lustigen Krempel zu verbreiten oder den Zeitvertreib anderweitig angenehm zu gestalten. Da finanziell heute kaum noch eine gesunde Eigenkontrolle zum Zwecke der Zügelung notwendig ist und das Bewusstsein fest verwurzelt ist, alles überall und solange man will zu sehen, kollidieren wesentliche Bereiche eines jeden Lebens mit genau diesem Bewusstsein: Bildung, Freizeit, Arbeitszeit und Sozialleben.

Wann haben wir beschlossen, aus einem kurzweiligen Zeitvertreib einen der wichtigsten Bestandteile unseres Alltags zu machen? Wann haben wir entschieden, dass es kaum Schlimmeres gibt als Momente der Stille? Wer hat Konzentrationsphasen und dedizierte Kanalisierung von Arbeitskraft über einen festen Zeitraum hinweg abgeschafft und uns zu Opfern der totalen Reizüberflutung gemacht? Nein, Merkel war's nicht - ausnahmsweise. Das haben wir tatsächlich alles selbst geschafft.

Seid ihr denn alle völlig bekloppt?

In der vergangenen Woche sind mir drei Fälle begegnet, die nicht zum ersten Mal die Frage in mir aufgeworfen haben, was an der heutigen Gesellschaft noch so alles schiefläuft – mal abgesehen von der konsequenten Verrohung und Verdummung ganzer Bevölkerungsschichten (man werfe einen Blick auf das Ergebnis der Bundestagswahl 2017).
Wenn ich mich umsehe, sehe ich mich mit einem flächendeckenden Null-Bock-Phänomen konfrontiert, das eigentlich mit der Pubertät hätte enden sollen, heute aber scheinbar mit erst mit dem Renteneintritt abflacht. Was stimmt hier nicht? Warum schauen Menschen ab 8:00 Uhr morgens auf die Uhr, um die Stunden zu zählen, bis der Feierabend endlich erreicht ist? Warum ist die Summe aller YouTube Videos dieses Arbeitstages aus dem Browserverlauf nicht weit weg von der Soll-Arbeitszeit eines Tages?
Fun Fact am Rande: euer IT-Leiter oder wer auch immer sich bei der Arbeit um eure Hard- und Software kümmert, könnte im Verdachtsfall auch mal zur Petze werden. Gerngeschehen.

Ich werde einfach den Gedanken nicht los, dass der Burnout, auch Überforderungssyndrom genannt und heutzutage eine der am weitesten verbreiteten Volkskrankheiten, vor allem eines ist: hausgemacht! Wir lenken uns mit völlig belanglosem Krempel so konsequent ab, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben uns stressen. So sehr, dass wir das Gefühl haben, sie nicht erledigen, erleben oder verarbeiten zu können. Unser Prioritätensystem ist dermaßen aus den Fugen geraten, dass wir es zwar schaffen, 100 WhatsApp Nachrichten am Tag zu empfangen und davon umgehend 150 zu beantworten (Na? Wer hat's gemerkt?), aber es nicht mehr auf die Reihe bekommen, bei der Arbeit Qualität pünktlich und ordentlich abzuliefern. Schlafmangel, Konzentrationsschwäche, Motivationslöcher, nervige Kollegen - wir beginnen damit, die Dinge, die uns nicht in unserem Sinne positiv ablenken, als Last zu definieren. Berufliche und familiäre und soziale Verpflichtungen verlieren gegen all die Dinge, die vermeintlich so viel interessanter und wichtiger sind. Gleichzeitig wundern wir uns, warum es eine wachsende Anzahl unzufriedener Menschen gibt, warum die Gesellschaft zusehens verroht. Dabei suchen wir nach Schuldigen, obwohl wir einfach nur in den Spiegel blicken und uns folgende Fragen einmal selbst und ehrlich stellen sollten:

  • Kann ich mein Handy 24 Stunden komplett ignorieren? Gar wegschließen und jemandem den Schlüssel geben?
  • Komme ich 24 Stunden zurecht, ohne das Internet zu verwenden oder es andere für mich verwenden zu lassen?
  • Kann ich 24 Stunden lang Status-Updates von Facebook, Instagram, Twitter & Co. ignorieren?
  • Kann ich eine Woche auf Binge Watching verzichten und meine Lieblingsserien einfach in zwei Wochen schauen?
  • Kann ich nur eine Folge schauen?
  • Kann ich heute Abend einfach um 22:00 Uhr ins Bett gehen, mein Handy in einem anderen Raum lagern und nicht mit einem Fernseher einschlafen? (Wenn du an dieser Stelle als erstes bemerkst, dass dein Handy dein Wecker ist, sagt das schon genug.)
  • Kann ich mit meinen Freunden ein Treffen über mehrere Stunden vereinbaren, bei dem niemand sein Handy dabei hat?
  • Kann ich morgen zur Arbeit gehen und zwischen 7:00 und 17:00 Uhr auf jegliche äußere Einflüsse verzichten, die nichts mit der Arbeit zu tun haben?

Stellt euch einfach mal all diese Fragen und denkt anschließend darüber nach, ob ihr euer Leben im Griff habt oder ob es andere Faktoren sind, die euer Leben bestimmen. Wie viel Energie habt ihr noch übrig für die Herausforderungen und Verpflichtungen, die im Leben noch auf euch warten?

Bitte entschuldigt. Ich kam etwas vom Thema ab. Ich hatte ja von drei Fällen berichtet, die ich jüngst erlebt habe. Die will ich euch natürlich nicht vorenthalten.

Fall 1: Minderjährige auf digitalem Turkey

Es geht um eine 15-jährige Dame, die in einem gewissen Verwandtschaftsverhältnis zu mir steht. Das erste Billig-Smartphone gab’s mit zwölf, drei Jahre später ist es ein Premium Modell, das beim Kauf locker für 800 EUR in die Tasche greift. Bei gleich zwei Besuchen in der vergangenen Woche war es nicht möglich, länger als eine Minute am Stück entweder nicht durch ein lautes Brummen im Gesprächsverlauf gestört zu werden oder die volle Aufmerksamkeit der jungen Dame zu behalten. Weiterhin war das Gespräch einfach nicht adäquat fortzusetzen oder zu beenden. Wir unterhielten uns über typische Teenie-Problemchen – also über Dinge wie die ersten Liebessorgen, den Süßigkeitsfaktor diverser „Boys“ (ich hielt das übrigens immer für eine BRAVO-Masche, aber die „Girls“ sagen das tatsächlich!) oder die neuesten Lästereien derjenigen, die eigentlich gestern noch die besten Freunde waren.

Aber... was heißt hier eigentlich unterhielten? So gut wie jeder Satz wurde durch ein nerviges *BSSSSSSSSSST* gestört. Immerhin: nur der Vibrationsalarm. Damit aber nicht genug: der Zeigefinger schnellte mit einem genuschelten „Moment kurz!“ in die Höhe, während sich der Blick abwand und hektisch wurde das Handy gecheckt. Eindeutige Gesichtsausdrücke waren zu erkennen – verliebtes Lächeln, dann genervtes Stirnrunzeln, hier eine Augenbraue, da ein Kichern, die Lippen bewegten sich während des Studiums der neuen Nachricht und der Daumen sauste sogleich über die virtuellen Tasten zwecks unverzüglicher Antwort. Dann flog das 850-EUR-Handy quer über das Bett des Jugendzimmers und kam stets auf dem puffeligen Kissen zur Ruhe – zumindest für Sekunden. Der nach wie vor erhobene Zeigefinger senkte sich langsam wieder und es ertönte ein beinahe erleichtertes: „So, ... weiter.“
Nachdem ich insgesamt dreimal Luft geholt hatte, um meinen nächsten Satz zu formulieren und jedes verdammte Mal wieder auf einen Zeigefinger blickte, fragte ich nach: „Sag mal, ist das eigentlich normal, dass du so mit Menschen sprichst, die du um Rat fragst? Entweder hörst du mir zu oder du beschäftigst dich mit deinem Telefon. Beides finde ich...“ *BSSSSSSSSSST* ... und weg war sie wieder. Abgetaucht in die Untiefen eines live vor meinen Augen erzeugten, temporären Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivität-Syndroms. Ein schwarzes Loch in der direkten zwischenmenschlichen Interaktion.

Ich bat Sie in einem taktisch genau abgepassten Moment, mir doch kurz ihr Handy zu überreichen – unter dem Vorwand, dieses Modell einmal sehen zu wollen. Ich nutzte das Vertrauen schamlos aus und steckte das Objekt der Begierde blitzschnell in meine Hosentasche. Betont ruhig und lächelnd sagte ich: „Und jetzt beenden wir unsere Unterhaltung mal gescheit. Das Ding brauchst du dafür gerade nicht.“ Sichtlich hibbelig, schaffte sie es dennoch, zwei Sätze mit mir zu wechseln, bevor es dreimal hintereinander in meiner Hosentasche *BSSSSSSSSSST* machte. Es ist egal, was ich sagte, denn sie bekam ab hier fast gar nichts mehr mit. Da saß ein 15-jähriges Mädchen vor mir und schaute mir, so hätte man es beinahe deuten können, konsequent in den Schritt. Als würde sie sich verzweifelt darauf konzentrieren, durch die Jeans hindurch auf das erlösende Display ihres Telefons schauen zu können. Jede Vibration des Telefons muss augenscheinlich der schlimmste Schmerz gewesen sein, den ein Mensch erleiden kann. Es vibrierte teilweise im Sekundentakt, so dass das blöde Ding fortwährend meinen Oberschenkel kitzelte. Zum Glück nicht den Schritt! Ihre Stirn legte sich in Falten, die Lippen waren aufeinandergepresst, die Finger sprangen wellenartig über die Knie. Wir hatten dieselbe Situation erreicht, obwohl sie das Handy gar nicht in der Hand halten konnte. Genervt von diesem erneuten Zustand fragte ich: „Kannst du das Scheißding nicht mal für zwei Minuten ignorieren?“ – ich erinnere mich selbst in dem Moment tatsächlich an meine Frau – und erhalte ein völlig entsetztes, heiser zischendes: „Neeeeiiiiin, Maaaaann! Ich will das wiederhaben. Ich muss Sachen klären. Mega wichtig! Echt jeeeeetzt! Gib das wieder! Maaaaann, eyyy!“

Ich bemerkte, wie sie sich wand. Die Arme vor dem Bauch verschränkt, sich hektisch vor- und zurückbewegend. Wie sie zwischen fordernder Lautstärke und winselndem Betteln schwankte. Angesichts dieser befremdlichen Szenerie schaute ich sicherheitshalber noch auf ihre Armbeugen, um diese auf Nadelstiche zu überprüfen. Aber da war nichts. Kann die Ausschüttung von Serotonin oder sonstigen Glückshormonen bei der Benutzung eines Smartphones so hoch sein, dass ein Entzug tatsächlich körperliche und seelische Schmerzen auslöst? Ich bin geneigt, das trotz des als Einzelfall nicht repräsentativen Feldversuchs als bestätigt zu erachten.
Nach einigen Minuten – vielleicht waren es drei oder vier – holte ich das Telefon wieder aus der Tasche, reichte es ihr und verließ den Raum. Ich bin absolut sicher, dass sie nicht einmal mitbekommen hat, dass ich ihr dabei noch zwei nicht gerade freundliche Sätze sagte. Unweigerlich stellte sich mir später die Frage, wie ein Mensch, der dermaßen abhängig von seinem Handy zu sein scheint, die täglich sieben bis neun Stunden Schulzeit verbringt. Interessante Erschreckende Vorstellung.

Übrigens: dieselbe Person hatte jüngst ein Zeitfenster von drei Monaten, um eine Praktikumsstelle im Rahmen des Schülerbetriebspraktikums zu finden und lebt in einer nicht gerade kleinen Stadt. Drei... Monate. Es gab nicht eine Bewerbung, nicht einen Anruf, nicht einen Funken an Initiative. „Viel zu stressig, ey!“ und „Boooaaah jahaaaa!“ waren die Reaktionen auf Nachfragen. Hierbei handelt es sich nicht rein um eine Sache der Erziehung, wenngleich diese natürlich zurecht in Frage gestellt werden darf.

Fall 2: Hormoneller Supergau dank WhatsApp

Ich muss mich outen: ich war nie und werde auch niemals Teil einer dauerhaften WhatsApp Gruppe. Und alle Jugendlichen jetzt so: „Waaas? Voll der Otto, Alter!“
Auch bei Facebook waren es gerade einmal zwei Gruppen, in denen ich vor meinem Ausstieg mehr oder minder aktiv war. Beruflich mit Kollegen bei einer Konferenz und in den Zeiten auf den Hotelzimmern eine WhatsApp Gruppe zur Abstimmung nutzen? Das höchste der Gefühle.
Dass sich heute diverse Menschenansammlungen in WhatsApp Gruppen organisieren, ist ja nun nichts Neues. Dass dies nützlich sein kann, will ich gar nicht in Frage stellen. Was aber passiert, wenn vor allem die Zielgruppe von WhatsApp Nachwuchs zeugt und sich anschließend regional zu einer üppigen Gruppe zusammenfindet, ist zuweilen einfach zu viel für den regulären Verstand.

Als meine Frau damit begann, mit unserer Tochter eine Krabbelgruppe und später eine Spielegruppe zu besuchen, fiel scheinbar unweigerlich dieser Satz: „Hey, ich adde dich mal bei unserer Mami-Gruppe, okaaay?“ Da meine Frau keine Freundin komplett stummgeschalteter Geräte ist, begann das Martyrium schon am frühen Abend. Im Minutentakt – zu Stoßzeiten im Fünf-Sekunden-Takt – blinkte und piepte das Handy. Überall Nachrichten-Previews, die über das Display flogen. Es gab keine Pausen. Es gab auch keine Von-Bis-Angabe, die man irgendwie hätte definieren können. Du stehst mit diesem Overflow auf und gehst damit ins Bett – wenn du clever bist, schaltest du das Handy nachts aus, lässt es in einem anderen Raum liegen oder aktivierst die Nicht-Stören-Funktion. Ansonsten wirst du auch in der Nacht konsequent zugespamt.

„Was ist denn da so verdammt wichtig?“, frage ich meine Frau in der Annahme, eine solche Gruppe erfülle den Zweck, in ratlosen Momenten die Gruppe zu befragen. „Ach, keine Ahnung.“, sagt sie, „Das geht mir auch langsam auf die Nerven, und ich bin gerade mal seit gut fünf Stunden da drin. Zum einen kann kaum eine von denen einen Satz formulieren, geschweige denn orthografisch unfallfrei darbieten, und zum andern steht da zu 99% komplett überflüssiger Blödsinn – ganz zu schweigen von den ach so süßen Bildern von all den Kindern und sonstigem, angeblich ganz doll niedlichen Geschiss.“
Ich frage also: „Was willst du dann da?“ Die Antwort pragmatisch: „Naja, da werden immer mal die neuen Termine für die Gruppentreffen veröffentlicht oder eben mitgeteilt, wenn sie mal ausfallen sollte.“

So ist das heutzutage. Es gibt einen klaren Sinn und Zweck für etwas und es dauert nicht lange, da bricht das Chaos aus. Das Handy meiner Frau war aufgrund der WhatsApp-Einstellung „Empfangenes automatisch zu sichern“ binnen vier Tagen überlastet. Absolute Speicherknappheit. Dafür hunderte Bilder völlig fremder Kinder – oder bunt und mit Halbgekautem verschmierte Küchentische mit der Bildunterschrift: „Anna-Lena lernt jetzt essen lol!“.

Irgendwann stellte meine Frau fest, dass eine Gruppenmitgliederzahl von 72 angesichts der Tatsache, dass sich eigentlich regelmäßig nur zehn oder zwölf Mamis trafen, kurios ist. Praktisch an einer solchen Gruppe ist nämlich, dass unzählige Muttis auf die Idee kommen, Schanneia und Zindi auch noch hinzuzufügen. Die kennt zwar keine Sau, aber sie könnten dann Bilder von Horst-Jerry und Shanice-Waltraud posten und wiederum die Bilder anderer Unbekannter sehen. Voll suuuuupi, Mädels. Frei nach Jeopardy: „Zu dämlich, um Gruppenrechte zu konfigurieren 500, bitte.“

Was man von einer WhatsApp Gruppe für Muttis erwartet:
Sandra, 28, schreibt um 19:25 Uhr:
„Hallo ihr, unser Kleiner schreit immer über eine Stunde lang, bevor er endlich total fertig einschläft. Habt ihr vielleicht ein paar Tipps für mich?“

Was in einer WhatsApp Gruppe für Muttis wirklich passiert:
Joyce, 17, schreibt um 2:33 Uhr:
„Hihiiiiiii Lara-Sophie hat grad ihr erste Pipikaka in Töpfchen gemacht !!!!!!!!! und papa und mama sind stolz oh wie süß das ist guckt mal hier ein Photo von Häufchen habe ich sogar gemacht oh mann was man so macht wäre ich früher nie in Leben drauf gekommen lol und bei euch so wieder nachtschicht hahaha??????????“

WhatsApp Gruppen für Muttis verhalten sich offenbar in etwa so wie globale, atomare Aufrüstung. Es braucht nur ein, zwei dumme Idioten und schon schwappt's im Scheißeeimer.

Fall 3: Der soziale Aussteiger

Ich besuchte neulich eine Geburtstagsfeierlichkeit. Nichts Wildes – nachmittags Kaffee, Kuchen, Plauderei. Während eine Handvoll Menschen im Wohn- und Esszimmer um einen Tisch herum saß und sich über dies und jenes unterhielt, saß der Gatte der Gastgeberin unmittelbar daneben auf einem Sofa. Breitbeinig, die Ellenbogen in gemeinster Rundrücken-Haltung auf die Oberschenkel gestützt, zwischen den Händen: sein Handy. Dieser Typ reagierte weder auf Ansprache, noch registrierte er, dass die anwesenden Kinder – unter anderem seine beiden – ihn regelmäßig ansprachen und zum Spielen aufforderten. „Ey, ich bin mittlerweile so stinkig!“, hörte ich irgendwann das Geburtstagskind zischen, „Der sitzt da seit zwei Stunden, glotzt nur in sein dämliches Handy und hat’s nicht mal geschafft, sich davon loszureißen, als ich gefragt habe, ob er schon mal den Kaffee aufsetzen und den Kuchen schneiden könnte. Da kam nur 'hm hm' und passiert is' gar nix!“

Ich bin beeindruckt. Nicht einmal, dass seine Frau, Luftlinie ca. 2,5 Meter von ihm entfernt, gerade nicht wirklich positiv über ihn sprach und sich bei ihren Gästen ausließ bekommt er mit. Der Kerl war völlig weggetreten und schien gerade in einer Zwischenwelt zu leben, in der offensichtlich die Herausforderung darin bestand, ein Spiel zu spielen und gleichzeitig drei verschiedene Messanger zu beantworten. Immer wieder – kleine Ergänzung: der werte Herr hatte es nicht nötig, den Ton abzuschalten – hörte man diesen kleinen Pausen-Jingle, wenn es wieder ans Tippen einer Nachricht ging. War das erledigt, piepte der Jingle erneut und die dicken Däumchen wabbelten über das Display.
Irgendwann kam die Gastgeberin auf die raffinierte Idee, die Kinder erneut auf diesen Fall anzusetzen: „Geh ma’ nach’m Papa rüber und sach, der soll mit euch spielen. Und nimm dem dat Ding da ma’ wech!“

Und die nächste Szene ist dann tatsächlich eher ein Fall fürs Jugendamt als für einen gemütlichen Geburtstagssonntagnachmittag. Der sechsjährige Sohn stapft auf seinen Vater zu und quakt entschlossen: „Los, spiel jetzt mit uns, Papa!“, während er ihm durch das Sichtfeld ans Handy greift. Papa zieht das Handy ruckartig weg, springt auf und brüllt seinen Filius an, ohne ihn jedoch überhaupt wirklich anzuschauen: „Ey, samma, bisse bescheuert oder wat? Verdammte Scheiße, jetz muss ich hier von vorne anfangen. Findeste dat jetz gut?! Geh weg da jetz. Geh irgendwat spielen!“
Vatti schnaufte wütend, ließ den Hintern wieder ins Sofa sacken, prustete ein atemreiches: „Maaaaann!“, beruhigte sein Gemüt allmählich und entfloh in die gewohnte Zwischenwelt. Dass seine Frau gerade wie wild zeterte und den weinenden Jungen zu trösten versuchte, bekam er nicht mit.

Fazit

Mittlerweile bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es tatsächlich für immer mehr Menschen nichts Schlimmeres mehr gibt als ruhige Minuten. Momente, in denen einfach mal gar nichts passiert, in denen womöglich eine Unterhaltung entstehen könnte oder sinnvolle Tätigkeiten umgesetzt werden könnten. Es muss der pure Horror sein. Überall liest man von rapidem Anstieg von Fällen von Burnout und generell von Überforderung. Als würde der Alltag, der uns diesen Mist beschert, nicht ausreichen, stresst man sich selbst auch noch durch die regelrechte Panik, nichts verpassen zu wollen, den Zwang, ständig auf das Handy zu gucken, etliche Nachrichten von hunderten Menschen zu beantworten und möglichst noch in diesem oder jenem Spiel den Highscore zu knacken. Wenn spielen zur Arbeit wird, hat das nichts mehr mit Spaß, Entspannung und Kurzweil zu tun. Warum rafft denn das niemand? Gleiches gilt für zwischenmenschliche Interaktion. Wenn es mir nicht bekommt, mit etlichen Menschen gleichzeitig zu kommunizieren und das jeden Tag von früh bis tief in die Nacht, dann muss ich doch irgendwann mal merken, dass etwas schiefläuft.

Ich kenne mittlerweile eine nicht gerade geringe Anzahl von Leuten, die sofort erhöhten Puls bekommt und genervt schnauft, sobald die Zwangsbeantwortung von immer mehr Nachrichten kein Ende findet. Dabei wäre es so einfach, würde man das blöde Klimperding mal zur Seite legen. Lautlos. Ohne Vibrationsalarm. Ohne Push-Nachrichten. Boss Level: Ultra!

Ich kenne sogar Menschen, die den gesamten (!) Feierabend damit verbringen, über den Tag aufgelaufene Nachrichten zu beantworten – etwa, weil sie bei der Arbeit ihr Handy nicht dabeihaben können. Was im Leben kann so wichtig sein, dass ich stundenlang an ein und demselben Fleck sitze, weder esse, trinke noch aufstehe, um Dinge zu beantworten oder zu schreiben, die, strenggenommen, keinem Menschen auf der Welt etwas wirklich Lebenswichtiges vermitteln? Nicht einmal die kürzesten Gespräche sind mehr möglich.

Heute wächst in mir der Eindruck, dass ich durch das Löschen meines Facebook Accounts und das im Anschluss durchgeführte Review der Konfigurationen aller Social Apps und Messanger, die ich nutze (Stichwörter: Push, Kontaktaufnahme, Nachrichtenzentrale, Anzeige, Töne, Alarme, ...), gerade noch den Absprung geschafft habe. Digitale Restriktionen mir selbst gegenüber waren scheinbar dringend notwendig. Ich habe mir selbst irgendwann die oben genannten Fragen gestellt und nach ehrlichen Antworten viel zu lange gesucht. Zu Beginn waren es nichts weiter als Ausreden. Sogar mir selbst gegenüber konnte oder wollte ich all diese Dinge nicht eingestehen. Ich kann nur diesen Apell an alle richten.

Wäre es nicht wunderschön, wenn die Menschen, die sich absichtlich gemeinsam in einem Raum aufhalten, auch wieder bemerken würden, dass sie überhaupt da sind? Wie lange wird es dauern, dass sie nicht einmal mehr zusammenkommen, weil schon die Vereinbarung eines Treffens zu anstrengend ist?

Schon vor mehr als sechs Jahren gab es einen vortrefflichen Moment in der Serie „How I met your mother“, der heute mehr dennje Bestätigung findet. Verabschieden werde ich mich daher mit dem folgenden Bild aus eben jener Folge der Serie.

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