Teil 3: Vorgeschichte und Entwicklung eines späten Frühchens

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Die ersten zwei Wochen und der lange Weg nach Hause

Im zweiten Teil dieser Serie hatte ich die Geburt unserer Tochter beschrieben, die weder meine Frau, noch ich mitbekommen hatte. Weiter geht's gleich mit den Tagen direkt danach und damit, was einen erwartet, der ein neues Leben in die Welt setzt, das eben nicht dem Standard entspricht...

In den ersten drei Tagen nach der Geburt bekamen wir vom wirklich unfassbar engagierten Klinikpersonal einen Crashkurs in Sachen spätes Frühchen. Wir wurden noch einmal darüber aufgeklärt, dass die Geburt nicht allzu verführt war und daher alle Organe tadellos arbeiteten. Das Wachstum und die Gewichtszunahme waren nun die Dinge höchster Priorität.

Alles piepst und blinkt - zum Glück!

Es war kein schöner Anblick, unser Würmchen hinter einem Glaskasten zu sehen – mit einer Infusion in den winzigen Händchen, einer weiteren im Kopf, drei verschiedenen Kabeln (Puls, Atmung, EKG), der Sauerstoffsättigungsprüfung am Fuß und der Sonde in der Nase, die von dort bis direkt in den Magen reichte, damit sie ernährt werden konnte. Dennoch war es ein Anblick, der uns eine gewisse Sicherheit gab. Sobald einer der Werte einen Grenzbereich über- oder unterschritt, dauerte es wenige Sekunden, bis eine entspannte Schwester das Zimmer betrat, ein paarmal irgendwo herumtippte, lächelnd nickte und wieder verschwand. Standard also. An das Piepsen und rote Blinken haben wir uns nur langsam gewöhnt. Vor allem, wenn ich allein zu Hause war – meine Frau war ja nach wie vor selbst im Krankenhaus – hörte ich nachts das Piepsen und sah rote Lichter blinken. Der täglich schönste Moment in dieser Zeit war für mich der, wenn ich morgens die Augen öffnete, das Tageslicht durch die Rollladenschlitze sah und feststellte, dass ich keinen Anruf erhalten hatte.

Aus eins mach zwei

Nach einer Woche, die daraus bestand, morgens in die Klinik zu fahren und abends nach Hause, teilte man uns nicht nur mit, dass meine Frau nach fünf langen Wochen endlich so weit sei, nach Hause gehen zu dürfen, sondern auch, dass unsere Tochter stabil genug sei, um die Intensivstation zu verlassen und in die Kinderklinik überstellt werden zu können. Das bedeutete, dass wenigstens zu Hause die Zahl der Bewohner wieder von eins auf zwei stieg. Am Tag der Entlassung meiner Frau gab es also einen hektischen Zwischenstop zu Hause, bevor es gleich wieder zur Intensivstation ging. Die Kinderklinik, in die unsere Tochter verlegt wurde, zwar nur gut drei Kilometer entfernt im selben Ort lag, es aber immerhin ein Krankentransport eines viel zu kleinen und viel zu leichten Säuglings war, der bis zu diesem Zeitpunkt noch niemals frische Luft geatmet oder die Sonne gesehen hatte, fuhren meine Frau und ich recht angespannt, dem Krankenwagen hinterner und begleiteten anschließend die Aufnahme in die neue Umgebung.

Hier durchliefen Mama und Papa schließlich die intensive und fordernde Ausbildung mit dem Abschluss Super-Mama und Super-Papa. Während Mama für die tägliche Lieferung schmackhafter Muttermilch zuständig war, erlernte Papa die notwendigen Maßnahmen zur professionellen Auslösung infernalischer Bäuerchen. Nach dem Stolz auf den großen Kampf, den unsere Kleine in ihrer ersten Woche durchfochten hatte, war ich zum zweiten Mal verdammt stolz. Diese 45 Zentimeterchen konnten Rülpsen wie ein Bauarbeiter nach dem Freitagsbesäufnis. So weit zu den persönlichen Aufgaben, Baden, waschen, Windelnwechseln, verkabeln, stillen, känguruhen, schunkeln, kuscheln, an- und ausziehen, schlafenlegen... das waren die gemeinschaftlichen Herausforderungen. In wenigen Tagen waren wir ein eingespieltes Team und konnten all diese Dinge über den Tag in der Klinik selbst erledigen. Mit der Zeit wuchs der Gedanke, dass Teamwork und gegenseitige Unterstützung der Schlüssel zum Erfolg waren.

Vor und nach jeder Nahrungsaufnahme erfolgte auf beinahe rituelle Weise das obligatorische Wiege-Zeremoniell. Wie sonst sollte man herausfinden, wieviel die Kleine gegessen hatte? Mal waren es 20 Gramm, mal 40, manchmal auch nur fünf oder zehn. Eine hervorragende Disziplin für Sportwetten, will man meinen. Jedes Gramm war ein Grund zur Freude und ein kleiner Kiesel auf dem zu pflasternden Heimweg. Die magische Grenze, 2.000 Gramm, wollte erreicht werden. Mit Geduld, Milch, Liebe... und Bäuerchen.

Aus zwei mach drei

Kurz vor dem Ziel, unsere Kleine hatte am Vorabend stolze 1.960 Gramm auf die Waage gebracht und somit ihr Körpergewicht um knapp ein Viertel vermehrt, fanden wir beim morgendlichen Besuch ein leeres Zimmer vor. Nach einem ersten Schock und hilflosem Umher-Irren durch den Flur begegnete uns eine Schwester, die uns zu unserer Tochter brachte. Sie lag im letzten Zimmer des Ganges und war erstmals komplett allein. Keine weiteren Babys, keine weitere Einrichtung im Zimmer. Ansonsten war alles wie immer. Das Lächeln, das der kleine Pups gerade erlernt hatte, war genau so niedlich wie am Vortag, die Windel ähnlich gefüllt, Hunger hatte sie auch. Was war also passiert? Dies sollte uns ein Arzt mitteilen, der sich für eine Visite angekündigt hatte, sobald die Eltern anwesend waren.

Der Arzt teilte uns mit, dass die Kleine sich einen gemeinen Keim eingefangen hatte. Dieser sei zwar absolut ungefährlich für sie, nicht jedoch für die noch wirklich kleinen Frühchen in den anderen Zimmern der Station. Lebensgefahr bestand und daher musste unser Nachwuchs in Isolationshaft genommen werden. Ungewöhnlich war, dass der Arzt für denselben Tag noch einige Untersuchungen angesetzt hatte. Allesamt Tests und Checks, die wunderbar in das Raster der U2 Untersuchung passten, die wir eigentlich bei unserer Kinderärztin nach der Entlassung hätten durchlaufen sollen. Als der Arzt den Satz begann: „Sind Sie denn schon bereit, Ihre Kleine in zwei bis drei Tagen mit nach Hause zu nehmen?“, ergänzte ich spontan um: „... oder heute schon, weil sie den Keim loswerden wollen?“, stammelte der weiße Weise kurz, begann dann verschämt zu grinsen und sagte: „Na gut, was soll ich um den heißen Brei herumreden? Ist schon richtig, was Sie sagen.“

Der erste Schlaf zu Hause Und dann ging es ganz schnell: ab ins Auto, flink nach Hause, Babyschale ins Auto, zurück ins Krankenhaus, alles eingepackt, Baby in die Schale, Schale ins Auto, Auto vor die Haustür, Baby in die Wohnung, Baby ins Babybett. Durchatmen. Ankommen. Still dasitzen und einfach gemeinsam zum ersten Mal seit sieben Wochen die Ruhe gewohnter Umgebung genießen, während der Stinkepuper den Schlaf der Gerechten schläft.

Wie entwickeln sich späte Frühchen?

Wie auch „reguläre“ Frühchen, kann es bei späten Frühgeburten zu Entwicklungsverzögerungen kommen. Dies kann sich auf verschiedene Weise äußern. Während kognitiv alles normal wirkt, kann es passieren, dass der Bewegungsapparat völlig hinterherhängt. Umgekehrt ist ebenfalls eine Situation, mit der man rechnen sollte. Niemals sollte man die Gedanken in Richtung Behinderung schweifen lassen. Ein spätes Frühchen ist nicht behindert! Es liegt lediglich eine Entwicklungsverzögerung vor und oft werden Betroffene die Weisheit hören, dass es den Moment gibt, in dem sie alles aufgeholt haben werden, was sie in den ersten drei Lebensjahren eventuell noch nicht konnten. Manche Babys und Kleinkinder holen schnell auf, andere langsamer.

Unsere Tochter spielte von Beginn an fröhlich Ping Pong mit den zu erwartenden Verhaltensweisen. Während sich in den ersten sechs Monaten herausstellte, dass sie zwar körperlich viel zu schwach war, schien die Gehirnaktivität überdurchschnittlich zu sein. Nach wenigen Monaten gab es „Mama“, wenig später kam „Nein“ dazu und schon bald war die „Ente“ das erste Tier, das sie namentlich erwähnen konnte - und sie kam nicht umhin, dies circa siebenunddreißigmal am Tag zu tun. Alles auf dem Rücken liegend, nicht im Stande, sich zu drehen, geschweige denn zu krabbeln oder zu sitzen. Erstaunlich war, dass die Ente nach einigen Wochen scheinbar völlig aus dem Gedächtnis verschwand. Bis heute hat sie „Ente“ nicht noch einmal gesagt, obwohl sie mittlerweile sehr viel komplexere Wörter spricht (wie zum Beispiel „der Ball“ oder „Katze ei“). Wir haben uns jedoch mehrfach bestätigen lassen, dass dies völlig normal ist. Bei Bedarf - und der wird vom Kind selbst ermessen - kehren die Wörter einfach wieder zurück. Insgesamt jedenfalls eine Sammlung von Disziplinen, die immerhin im Rahmen der Leistungsgesellschaft regelmäßig vom gesamten Bekanntenkreis und teilweise völlig fremden abgefragt werden. Gewöhnt euch also schon mal an die folgenden Fragen:

„Dreht sie sich schon?“

„Sitzt sie schon?“

„Schläft sie schon durch?“

„Spricht sie schon?“

„Hat sie die Steuererklärung schon fertig?“

Fragen, gegenüber denen man als Elter eines späten Frühchens irgendwann ein dickes Fell aus purer Ignoranz und Sarkasmus entwickelt. Nicht die Entwicklung deines Kindes ist es, was dich stört. Es ist der unbändige Drang deines Umfelds, dir einreden zu wollen, dein Kind sei nicht normal oder du würdest irgendetwas falsch machen. In der Tat ist dein Kind nicht normal, wenn normal der Maßstab ist, dem man ein bei der Geburt 4.000 Gramm schweres und über 53 Zentimeter großes Kind zuordnet. Dann – in der Tat – ist hier gar nichts normal.

Behalte eine Sache immer im Hinterkopf: Mit der Geburt eines Frühchens oder späten Frühchens und nach all den Tagen im Krankenhaus, auf der Intensivstation und all den anderen Stationen, die du mit deinem Kind durchlaufen hast, bist du aufgrund all dieser Erfahrungen ein Experte oder eine Expertin auf dem Gebiet deines eigenen Kindes. Du hast Wissen von Ärzten erhalten, Tipps von erfahrenen Schwestern, die besten Tricks und Vorgehensweisen von Stillberaterinnen und medizinische und verhaltenspsychologische Fakten zu deinem Kind. Im Folgenden daher ein paar Überlebenstipps beim Jogging durch das Minenfeld, das sich Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis nennt:

  • Antworte auf Fragen sachlich und verständnisvoll. Mach dir klar, dass das Wissen, das du hast, exklusiv ist und womöglich niemand in deinem Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis diese Erfahrung ebenfalls durchlebt hat.
  • Rege dich nicht auf, wenn dir jemand aus Unverständnis etwas unterstellt oder dämliche, altkluge Vermutungen anstellt.
  • Reagiere nicht auf die Aussage, dass die Ärzte heute nur Quatsch erzählen würden oder sowieso nur Geld scheffeln wollen.
  • Reagiere nicht auf Vergleiche mit dir selbst, als du im Alter deines Kindes warst oder mit Kindern von Bekannten oder Freunden.
  • Verzeihe den Gesprächspartnern ihre Ahnungslosigkeit.
  • Spiel in deinem Kopf Musik, wenn ein auf dein Kind bezogener Satz mit „Das Kind einer Freundin...“ beginnt
  • Erkläre jedem, den es interessiert, warum die Dinge sind, wie sie sind, aber verzichte auf das fünfte Mal, wenn du bemerkst, dass die Erklärungen nicht verstanden (wollen) werden.
  • Binde dein Kind fest in jedes Element deines Alltags ein und lass nicht zu, dass du selbst dein Kind als fehlentwickelt oder gar behindert wahrnimmst. Dein Kind ist kerngesund und alles, was es jetzt noch nicht kann, wird es können. Versprochen! Geduld, Motivation, Unterstützung und Liebe sind die Schlüssel. Vor allem aber Geduld!
  • Und weil wir gerade dabei sind: führe dir vor Augen, dass ein Kind, das unterentwickelt ist, sehr viel mehr und vor allem länger Unterstützung benötigt als ein normal entwickeltes Kind. Hier ein paar Tipps zu den Dingen, die du für dein Kind tun kannst und die sich für uns immer wieder als absolut richtiger Weg bestätigt haben:

    • Liebe es, küsse es (Ja, verdammt noch mal, auch die Väter – egal, ob Junge oder Mädchen!), kuschle es, wiege es in deinen Armen und streichle es in den Schlaf
    • Hilf ihm, wobei du und so oft du nur kannst
    • Mache mindestens einmal am Tag einen langen Spaziergang und zeige deinem Kind die Welt. Frische Luft ist wichtig und die Welt hat mehr zu bieten als ein Bettchen, Mamas Brust, eine Rassel, Autos, Häuser und Straßen. Dein Kind bekommt sehr viel mit als dir bewusst ist.
    • Leg dein Kind nicht irgendwo ab. Binde es in deinen Alltag ein und erledige Dinge mit ihm gemeinsam.
    • Lass den verdammten Fernseher aus. Du und dein Partner seid die Welt eures Kindes, nicht die Hauptsache-Es-Ist-Ruhig-Und-Nervt-Nicht-Maschine!
    • Ein Smartphone ist kein Spielzeug für ein Baby oder Kleinkind – auch keine lustigen Videos, Zeichentrickfilme oder Musikvideos von Kinderliedern!
    • Motorik-, Musik- und Kreativutensilien sind Spielzeug!
    • Unterstütze es beim Wechsel in die Bauchlage und bei der Drehung zurück und sei dabei konsequent – vor allem, wenn es selbst zu schwach ist, die Drehung zu schaffen. Kontinuierliche Hilfe, gepaart mit deutlichem Lob und ausgesprochener Freude fördert die Willenskraft und macht dem Kind außerdem Spaß.
    • Deshalb: lobe dein Kind bei jeder sich bietenden Gelegenheit für Dinge, die es erreicht, geschafft oder zum ersten Mal getan hat (Wörter, sitzen, krabbeln, stehen, laufen, singen, zählen, robben, drehen, Spielzeug benutzen, ...). Dein Kind wird noch früh genug von der Gesellschaft selbst lernen, dass es Lob fast nur noch in der Kindheit gibt.
    • Zeige ihm sein Spielzeug, spiel mit ihm, erzähle ihm so viele Dinge wie möglich.
    • Zeige ihm Bilderbücher und beschreibe jede einzelne Seite anhand der Dinge, die zu sehen sind.
    • Beschreibe generell alle Dinge, die im Alltag zu sehen sind und zeige deinem Kind, wie sie funktionieren bzw. zu was sie gut sind.
    • Beginne so früh wie möglich damit, mit dem simplen Wort „Nein“ zu signalisieren, wenn etwas nicht in Ordnung ist (das verhindert zum Beispiel, dass dein Kind deine Schränke ausräumt, mit CDs um sich wirft oder in die Steckdose packt, sobald es mobil wird)
    • Fördere die Neugier deines Kindes bis zu dem Punkt, an dem Gefahr droht.
    • Lass es nicht aus den Augen und einfach irgendwo herumliegen – vor allem, wenn es noch sehr klein ist. Das Baby braucht die Nähe seiner Eltern und die Gewissheit, dass jemand da ist.
    • Nimm ihm von Beginn an die Angst vor fremden Menschen. Lass es auf anderer Leute Schoß sitzen, mit anderen interagieren und blödeln Hab Geduld und versuche, deinem Kind beizubringen, dass Geduld und Ausdauer irgendwann belohnt werden – auch wenn Versuche immer wieder in die Hose gehen.
    • Respektiere die Entscheidungen deines Kindes. Wenn der vierte Motivationsversuch darin endet, dass gar nichts mehr geht, dann lass es für heute gut sein. Es wird von allein den nächsten Versuch starten.

    Mit all diesen Dingen sind wir der Meinung, bemerkt zu haben, unserer Tochter den besten Start ins Leben ermöglicht zu haben. Sie dankt es uns mit all diesen kleinen, liebevollen Gesten. Matschige Schmatzer, das Ankuscheln, wenn sie langsam müde wird oder einfach eine Sekunden-Auszeit nimmt. Die aktive Mitteilung ihres Befindens und Beschreibung dessen. Das alles klappt aber nur, wenn man vor allem einer Tugend immer und immer wieder folgt: Geduld! Wer geduldig ist und seinem Kind sich entwickeln hilft statt Forderungen zu stellen und in Enttäuschung zu versinken, wird schnell feststellen, dass Freude über Fortschritte mehr wert sind als Enttäuschung über Stagnation.

    Das erste Jahr - oder: das lange Warten auf so gut wie alles

    Weiter geht's im vierten Teil
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