Teil 4: Vorgeschichte und Entwicklung eines späten Frühchens

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Das erste Jahr oder: das lange Warten auf so gut wie alles

Den dritten Teil dieser Serie beendete ich damit, wie unsere Tochter nach dem schweren Start ins Leben endlich zu uns nach Hause durfte. Auch im vierten Teil möchte ich nahtlos anknüpfen. Diesmal an das erste Jahr und das lange Warten auf so gut wie alles...

Nachdem unser Knirps endlich zu Hause angekommen war, konnte das erste Lebensjahr in der zukünftig gewohnten Umgebung beginnen. Meine aufgrund der Komplikationen spontan angemeldete Elternzeit war jedoch nicht mehr wirklich von Dauer, so dass ich nur eine Woche, nachdem die Kleine endlich zu Hause war, wieder zu arbeiten beginnen musste. Bis dahin waren wir ein eingespieltes Team und regelten alle notwendigen Abläufe und Tätigkeiten Hand in Hand.

Pumpen, Füttern, Pumpen, Wickeln, Pumpen, Schlafen

Da der Knirps nach wie vor zu wenig Gewicht zulegte, waren wir gezwungen, neben den ca. 12 Stilleinheiten pro Tag zusätzlich FMS, das so genannte Frauen Milch Supplement, zu verabreichen. Dies mischten wir mit der abgepumpten Muttermilch und verabreichten es über kleine Fläschchen. Eine Tatsache, die uns massiv störte, da meine Frau entschieden hatte, voll zu stillen, dem Kind also keine Zusatznahrung per Flasche verabreichen zu wollen. Diese bestialisch riesige Baby-Profit-Industrie sollte auf uns verzichten, das hatten wir uns geschworen. Dummerweise wird dieses FMS von einem der Player am Markt produziert. Man mag hier an ein Monopol denken. Ob es eines ist, kann ich leider nicht sagen. Jedenfalls ist der Hersteller von FMS Milupa, die wiederum ein verlängerter Arm des Danone Konzerns sind. Aufgrund der scheinbar herrschenden Alternativlosigkeit ist FMS nur in Apotheken erhältlich und macht vor allem Geringverdiener geradezu arm. Das Zeug kostet in der 200g Dose um die 22,00 EUR und wird mit 4,4g je Flasche (100ml) angemischt. Nach 45 Flaschen, also nach gut 15 Tagen bei drei FMS-Flaschen pro Tag, ist die Dose leer und der Monat gerade einmal halb verstrichen. Betroffene sollten sich also darauf einstellen, monatlich über 40,00 EUR für Milupa Aptimel FMS investieren zu müssen.
Side Fact: der Vertretungsarzt unserer Kinderärztin sagte dazu: „Was bitte ist das denn für ein Quatsch? Ihre Tochter mag etwas klein und schlank sein, aber in der Muttermilch ist alles, was sie braucht. Werfen Sie diesen Quatsch weg, das ist alles Vertragswerkerei zwischen Kliniken und Herstellern.“

Und hier muss man einfach ein Problem im heutigen Gesundheitswesen hinsichtlich Babys und Kleinkindern ansprechen. Kliniken pflegen offenbar Verträge mit Herstellern, Ärzte scheinen sich dem nicht gerade selten anzuschließen und nur wenige Ärzte raten ganz davon ab und schimpfen regelrecht über die Zusatzmittelchen. Wer ist Opfer dieser Kampagnen? Die Eltern bzw. im Endeffekt das Kind. Sollen wir ihm nun dieses FMS geben oder nicht? Die Klinik sagt ja, der Vertretungsarzt schimpft und sagt nein, die Kinderärztin, aus dem Urlaub zurück, sagt ebenfalls ja. Hilfloser kann man als Eltern einfach nicht sein. Da hier keinerlei Schadstoffe oder sonstige, die inneren Organe negativ belastenden Substanzen einfabriziert sind, entschlossen wir zähneknirschend, uns der Mehrheit zu beugen und FMS weiterhin zu verabreichen.

Und so bestand unser Tagesablauf aus pumpen, füttern, pumpen, wickeln, pumpen und dem Versuch, eine Art Akkordschlaf zu etablieren. „Legen Sie sich immer gemeinsam mit dem Kind hin. Sonst bekommen Sie nicht die Menge an Schlaf, die Sie selbst benötigen.“ So hatte man es uns oft genug in der Klinik geraten. Aber wie stellt man das an? Ein erwachsener Mensch kann nicht einfach seinen Biorhythmus von 17-Stunden-Wach-Sieben-Stunden-Schlaft auf Vier-Stunden-Wach-Vier-Stunden-Schlaf ändern. Gerade, wenn dein Körper bemerkt, dass du schlafen willst, wird das Kind wach und du bist doppelt so müde wie vorher. Deswegen auch an dieser Stelle ein Rat an alle jungen Familien: wenn ihr es schafft, legt euch hin und ruht euch mit eurem Kind gemeinsam aus. Wenn ihr das nicht schafft, sprecht euch ab, wer wann schläft und wer wann wach ist. Während meine Frau tagsüber alles erledigt hat, war ich nachts der Fläschchen-Papa. Anfangs alle drei, später alle vier Stunden aufstehen, Flasche wärmen, füttern, hinlegen, in den Schlaf schunkeln und dann selbst versuchen, wieder in den Schlaf zu finden.

Physiotherapie

Etappenziele mit Unterstützung, Geduld und Motivation

Gleichzeitig nahmen wir zweimal in der Woche Termine zur Physiotherapie unserer Kleinen wahr. Hierbei fokussierten sich alle Maßnahmen auf den Bewegungsapparat unserer Tochter. Mehr als Hilfestellung bei der Drehung war hier jedoch gar nicht möglich. Da der Schultergürtel und der gesamte Rumpfbereich unserer Tochter sehr zierlich war, war sie nicht einmal in der Lage, in Bauchlage den Kopf zu heben. Dies galt es behutsam nach und nach zu verbessern, doch auch dieser Weg war keine Schnellstraße. Und so durchliefen wir Tag für Tag, Woche für Woche eine Art Standard-Programm, das eigentlich niemand in unserem Umfeld wirklich nachvollziehen konnte. „Könnt ihr nicht...?“ oder „Wie wäre es denn mal mit...“ und vor allem „Als früher haben wir dann...!“ waren die Sätze, die einfach niemand mehr hören wollte. „Mensch, rafft es doch einfach! Jedes Kind ist anders und unseres ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer.“, mochte man nicht allzu selten brüllen, hätte man keine entsprechende Kinderstube genossen, die dies verhinderte. Eine Individuelle Betreuung kann in diesem Fall eben nicht individuell genug sein. Also zogen wir unser Programm bereits seit kurz nach der Geburt weiterhin stur durch.

Teil des Programms war auch der regelmäßige Besuch unserer Hebamme. Ich erinnere mich noch an die Stimmung kurz vor ihrem ersten Besuch. Aufregend war das. Hatten wir unser Kind bisher gut behandelt? War alles dran, was dran sein sollte? Hatten wir gar grobe Fehler gemacht, die nun mühsam und langwierig korrigiert werden mussten? Leider konnte aufgrund der Komplikationen im Vorfeld kein intensiver Kontakt hergestellt werden. So blieb es bei zwei Besuchen zum Kennenlernen, die immerhin bereits mehr als sieben Wochen zurücklagen.

Wir hatten uns allerdings grundlos Sorgen gemacht, denn unsere junge Hebamme war vom ersten Moment an Teil unseres kleinen Teams. Auch von ihr lernten wir noch viele neue Kniffe und erhielten wertvolle Tipps – beispielsweise das langsame Heranführen an das Vollstillen und das sukzessive Absetzen des Groschengrabes FMS. Wichtig hierbei war es, das Kind regelrecht – pardon – zu verarschen. Ein feiner Schlauch mit einem Durchmesser von ca. 1-2mm wurde längs am kleinen Finger vorbeigeführt, dort mittels Pflaster befestigt und dem Kind mitsamt der Fingerspitze zum Saugen angeboten. Auf der anderen Seite befand sich eine kleine Spritze, die mit FMS-Milch gefüllt war. So konnte unsere Tochter den Saugreflex mittels künstlicher Zugabe, allerdings natürlichem Kontakt und ohne Flaschensauger trainieren, was zur Folge hatte, dass sie während der weiteren Mahlzeiten an der Brust immer mehr Milch zu sich nehmen konnte, bis sie erschöpft wieder einschlief.

Bei der Auswahl der Hebamme hatten wir seinerzeit Wert daraufgelegt, dass wir jemanden finden, der halbwegs in unserem Alter war. Einfach, weil die Kommunikationsebene eine andere ist als die, wenn man eine 55-jährige Dame vor sich hat. Nach den schier endlosen Ratschlags-Salven aus der Familie hatten wir alte Weisheiten zur Genüge gehört und sehnten uns nach frischem, modernem Wind. Vor allem erhofften wir uns Beratung und Begleitung auf der Basis aktueller Informationen und neuester Erkenntnisse. Wahrscheinlich haben wir hiermit sogar den älteren Semestern Unrecht getan, weil wir den potenziellen Erfahrungsschatz einer langjährigen Hebamme völlig ignoriert hatten. Aber für den Moment was es einfach genau das, wonach wir gesucht hatten.

Unsere Hebamme besuchte uns in der Regel einmal in der Woche und durfte aufgrund der Notwendigkeit der erweiterten Betreuung sogar länger als eigentlich gewöhnlich unsere Betreuung übernehmen. Jeder Termin ging mit einer gewissen Vorfreude und Spannung einher. Auf der einen Seite freuten wir uns auf die vielen neuen Tipps und Tricks, die situativ aufpoppten, auf der anderen Seite waren wir gespannt, wie unsere Tochter sich in den Augen unserer Hebamme entwickelt hatte, wie viel zu zulegen konnte und wie es um die Motorik und andere Kriterien stand.

Der erste Handstütz

Normalität in Zeitlupe

Endgültig auf uns allein gestellt waren wir, als die Betreuungszeit unserer Hebamme endete. Sie musste ihren Job hervorragend erledigt haben, denn ab diesem Moment fühlten wir uns vollends imstande, den Herausforderungen gelassen entgegenblicken zu können, die da noch kommen sollten.

Mittlerweile war unsere Tochter gut acht Monate alt. Während andere Kinder in dieser Zeit das Sitzen beherrschen als seien sie sitzend zur Welt gekommen und durch die Wohnung krabbeln, als hätten sie Raketen am Hintern, lag unsere Tochter nach wie vor auf dem Rücken, starrte an die verschiedenen Zimmerdecken, das Autodach oder in den manchmal blauen, manchmal grauen Himmel. Das höchste der Gefühle war ein auf dem Bauch liegendes Aufstützen der Arme und ein zittriger Blick nach vorn, kurz bevor die Arme nachgaben. Oberste Priorität hatte in dieser Zeit dennoch die Bauchlage. Nur so konnte der Schultergürtel und die Rumpfmuskulatur nach und nach gestärkt werden. Da Babys von Natur aus neugierig sind, werden sie immer wieder den Kopf heben und sich über die Arme anheben. Von Tag zu Tag wird die Position länger gehalten, bis die Bauchlage irgendwann absolut selbstverständlich ist. Aber wie kommt das Kind in diese Position? Geradezu garstig reagierte sie oft, wenn sie es von selbst einfach nicht schaffte, sich vom Rücken auf den Bauch zu rollen. Immer brauchte sie die vorsichtigen Schubser von Mama oder Papa. Doch eines Tages geschah das Ersehnte: meine Tochter blickte mich an, verzog das Gesicht in eine Art Jetzt-Erst-Recht-Mimik, schwang kurz nach links, dann wuchtig nach rechts und... plumps... die Bauchlage war ohne Hilfe geschafft. Der Stolz in ihrem Blick und das breite Lächeln unter tosendem Applaus eines beinahe weinenden Papas... unbeschreiblich. Die 87 weiteren Drehungen der nächsten zehn Minuten mit immer dem gleichen Gesichtsausdruck bestätigten, dass jemand hier gerade eine neue Ebene erreicht hatte und diese Ebene ununterbrochen gefeiert werden musste.

Das erste Mal sitzen

Diesen Gesichtsausdruck gibt es übrigens auch heute noch. Gerade heute, am 2. Oktober 2017, stellte sich unsere Kleine bei der Physiostunde tatsächlich zum ersten Mal geplant auf die Füße, um ein Spielzeug zu erreichen, das absichtlich an einem höheren Ort platziert worden war. Wie selbstverständlich zog sie ihren Oberkörper am Hindernis hoch, stützte sich erst auf die Knie und anschließend auf die Füße, griff nach dem Spielzeug, setze ein glückliches Lächeln auf und schien erst dann zu begreifen, was sie gerade geleistet hatte. Das Lächeln wurde zu einem mit offenem Mund lautstark vorgetragenen Jubel unter motivierendem Applaus und der Anfeuerung der Anwesenden. Nicht einmal zwei Wochen ist es her, dass unsere Entdeckerin plötzlich zum ersten Mal eigenständig auf ihrem Hintern saß. Das Gesicht kann man sich mittlerweile wohl vorstellen...

Zwischen diesem heutigen Moment und der ersten Drehung in die Bauchlage liegen knapp sechs Monate. Sechs Monate, in denen unsere Tochter gerade einmal die Bauchlage, den Handstütz und erste Rob-Versuche unternommen hatte. Das Robben hatte sich zwar zu einer gewohnten und irgendwann auch recht fixen Bewegung gesteigert, aber bis heute ist keine Krabbelbewegung zu erkennen, die länger als drei Sekunden dauert. Was will ich damit sagen? Unsere Tochter ist nun 15 Monate alt. Andere Kinder laufen in diesem Alter ohne Hilfe recht sicher durch die Welt. Unsere Tochter nicht. Sie lernt gerade, das Gleichgewicht beim Sitzen zu halten und entdeckt, dass ihre Füße ihr Gewicht auch tragen und nicht nur nach vorn schieben können. Während sie uns nach wie vor ganze Geschichten erzählt und auch ansonsten geistig topfit ist, ist sie eben weiterhin eingeschränkt in den Dingen, die ihr Körper mit Muskelkraft und Koordination zu leisten hat. Seit weit mehr als einem Jahr ist uns diese Situation bekannt und seit genau der gleichen Zeit tun wir gemeinsam mit ihr alles dafür, dass ihre Entwicklung liebevoll, motivierend und in ihrem eigenen Tempo stattfindet.

Was auch kommt, wir sind bereit!

Meine Frau und ich sind überglückliche Eltern einer kerngesunden Tochter, die in 15 Monaten zweimal einen Zwei-Tages-Schnupfen und einmal einen zwei Wochen andauernden Infekt hatte, mit vier Monaten die ersten drei Zähne und bis heute fast alle hat. Sie ist weit weniger häufig krank als jedes andere Kind in unserem Umfeld und sie kann erschreckend genau unterscheiden, was in Ordnung ist und was nicht – von sich aus, ohne laute Verbote oder genervte Belehrungen der Elternschaft. Sie ist quirlig, sie ist glücklich, sobald sie morgens aufwacht, sie geht ohne jegliches Theater gerne abends ins Bett, seit einem Monat täglich sechs Stunden ohne jegliche Beschwerden zu einer Tagesmutter mit drei weiteren Kindern, sie liebt ihre Bücher und Spielsachen, sie isst und trinkt selbstständig, sie sagt uns, wenn die Windel eine Überraschung für uns bereithält und sie zeigt uns jeden Tag, dass sie glücklich darüber ist, dass es uns gibt und dass wir ihr bei allem helfen, wobei wir helfen können...
Wen zur Hölle interessiert es dann, dass sie noch einige Zeit brauchen wird, um die körperlichen Fähigkeiten gleichaltriger Kinder zu erreichen? Fuck you, Leistungsgesellschaft.

Ende

(erst mal)

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